Bikepacking in Patagonien
Patagonien: Das bedeutet Wildnis, spektakuläre Berge und Artenvielfalt. Für Radreisende wie uns steht es aber auch für Wind, schwierigen Untergrund und spärliche Infrastruktur.
Im November 2022 durchquerten wir Patagonien mit dem Rad. Eine Bikepacking-Tour voller Herausforderungen und Hürden, aber auch voller atemberaubender Erlebnisse in einer einzigartigen Natur. Eine Reise mit 4 Jahreszeiten an einem Tag, begleitet von Andenkondoren und Guanakos, zu schroffen Bergketten, riesigen Gletscherzungen und herzlichen Menschen.
#1 Na, wie wars?
Nach einer Reise wie dieser gibt es kaum eine Frage, die schwerer zu beantworten ist. Unglaublich, wunderschön, beeindruckend und anstrengend war es!
Das besondere an Radreisen ist, dass jeder Tag eigentlich schon vordefiniert ist. Die Strecke ist klar und die Aktivität steht auch: wir fahren Rad. Grundbedürfnisse wie Wasser, Essen, ein sicherer Schlafplatz und Wärme nehmen einen ganz anderen Stellenwert ein. Und die kleinen Dinge und Begegnungen nehmen wir viel intensiver wahr.
Die Reise mit dem Fahrrad erlaubt sowohl Entschleunigung und tiefes Eintauchen, lässt uns aber gleichzeitig aus eigener Muskelkraft einen großen Teil der Region sehen. Die Tierwelt, die Natur und die Menschen in Patagonien sind einfach faszinierend. Aber die eigentliche Schönheit der Reise liegt darin, jeden Tag schon beim Aufwachen zu wissen, dass Patagonien uns wieder zum Staunen bringen wird.
#2 „Fin Pavimento”
Ein großer Teil unserer geplanten Tour verläuft auf der Carretera Austral, auch Route 7 genannt. Sie ist die einzige „große Hauptstraße“ im chilenischen Teil Nordpatagoniens und endet in Villa O´Higgins.
Weil die Region so abgeschieden und sehr dünn besiedelt ist, muss ziemlich genau geplant werden, wo und wann (man beachte die Siesta der kleinen Dorfläden) man sich das nächste Mal mit Lebensmitteln eindecken kann. Wasser gibt es zum Glück durch die Gebirgsflüsse fast überall. Manchmal fahren wir Etappen von 200 Kilometern, in denen keine Infrastruktur zu finden ist, dafür aber die schönste Natur, die wir uns vorstellen können.
Der erste Abschnitt erinnert mich landschaftlich fast schon an unser heimisches Voralpenland: Weidende Kühe, saftig grüne Berghänge und ein paar Schneekuppen im Hintergrund. Die Asphaltstraße ermöglicht ein entspanntes Vorankommen. Mit viel Abstand passieren stets nette Autofahrer, die bestärkend hupen und manchmal sogar „Venga“ (Auf gehts!) oder „Suerte“ (Glück) rufen.
Der zweite Abschnitt beginnt mit dem vielversprechenden Schild „Fin Pavimento“ und macht uns darauf aufmerksam, dass es ab hier kein Stück Asphalt mehr geben wird.
In den nächsten Wochen erfahren wir, wie viele Facetten Schotter haben kann. Ab jetzt ist die Geschwindigkeit abhängig vom Untergrund: Entweder er besteht aus Lehm, gespickt mit ein paar Kieseln, und das Fahrrad klebt regelrecht an der Straße, oder es sind überwiegend faustgroße Steine, wodurch die Fahrt dann eher einem Rodeo-Ritt gleicht. Auch das berüchtigte „Waschbrett“ taucht immer wieder mal auf und schüttelt Kopf und Körper schön durch.
Außerdem bedeutet Schotter: Staub! Wenn uns Autos passieren, bedecken wir Nase und Mund mit einem Tuch oder halten die Luft an.
Je weiter wir nach Süden kommen, desto mehr nimmt der Wind zu, es wird kälter und die Infrastruktur wird noch spärlicher. Dafür kommen wir hier näher an die großen Berge und Gletscher heran. Die Fahrt zehrt immer mehr an den Kräften, ist aber jeden Kilometer wert!
#3 Eine Oase in der Wildnis
Die Tierwelt Patagoniens, und vor allem die Beziehung zwischen Mensch und Tier, zählt für mich zu den schönsten Eindrücken der Tour. Mein persönliches Highlight: Die Guanaco-Herde, die uns bei der Fahrt ein Stück weit begleitet hat! Die wunderschönen Tiere sind die „Lamas Patagoniens“ und kommen hier überall vor.
Mitten in der Wildnis, knapp hundert Kilometer von jeglicher größerer Zivilisation entfernt, lebt Marta mit ihrem Mann, ihren Söhnen und Enkelkindern auf einer Farm. Sie schafft eine Oase für Reisende wie uns und heizt prompt den Ofen an für heiße Duschen, als wir bei ihr ankommen. „Ich möchte, dass Reisende sich wohl fühlen und einfach mal abschalten können. Wir haben hier auch keinen Empfang. Wenn ich etwas brauche, frage ich Freunde, die hier immer mal wieder vorbeifahren, ob sie mir etwas mitbringen können. Aber schaut euch um, ich habe doch fast alles, was ich brauche, im Garten.“
Marta lädt uns zum Frühstück ein und kredenzt Eier von den Hühnern draußen und Käse aus der Milch der Schafe in ihrem Garten. „Vor einigen Jahren sind wir noch mit den Pferden in die Stadt geritten. Das machen wir jetzt nicht mehr.“ Auf die Frage, ob sie ihr Leben hier in der Einsamkeit selbst gewählt hat, nickt sie und sagt, sie würde es niemals gegen das Leben in der Stadt tauschen wollen. Und einsam sei sie auch ganz und gar nicht. Sie habe ja Familie, Freunde und ihre Tiere.
Nach einer der besten Duschen der Reise richten wir zwischen den Schafen, Hühnern und den anderen Farmbewohnern unser temporäres Zuhause ein. Eine Katze legt sich daneben und wacht über uns. Ich starre die grüne Zeltdecke an, lausche dem Wind, der mittlerweile zum ständigen Begleiter geworden ist, und bin einfach nur erschöpft und glücklich.
Die Begegnung mit Marta gehört für mich zu den schönsten Beispielen für den Zusammenhalt der Bewohner Patagoniens. Die Achtsamkeit und der Respekt gegenüber Menschen und Tieren sind wirklich inspirierend.
#4 Abenteuer Grenzüberquerung
In Patagonien wirkt die Natur so riesig groß und mächtig, dass man sich selbst dagegen winzig klein vorkommt. Deshalb empfinden die Menschen hier so einen tiefen Respekt und Ehrfurcht vor den Naturgewalten, die den Alltag bestimmen.
Am Ende der Carreterra Austral angekommen, warten wir auf eine Fähre, die uns über den Rio Villa O´Higgins bringen soll. Nur so können wir den winzigen Grenzübergang nach Argentinien erreichen, für den wir uns entschieden haben.
Wir treffen uns mit einem Chilenen, drei Italienern, zwei Kanadiern, einer Deutschen und einem Bulgaren im Zuhause des Kapitäns in Villa O´Higgins. Der bärtige Mann schlürft durch einen Strohhalm an seinem Mate-Tee und breitet seine riesige Landkarte aus. Dann richtet er einen skeptischen Blick auf seinen alten Computer, der ihm die Windprognosen verrät.
„Ok, morgen früh um 5 haben wir ein Zeitfenster von 3 Stunden, in dem der Wind etwas abschwächen soll.“ Er erklärt uns in ernstem Ton, was diese Überfahrt bedeutet, welche Konsequenzen ein Kentern hätte und warum die Strömungen und Wellen im Gletscherwasser so extrem sind.
Wir stehen um 4 auf und brechen mit den Rädern zum Hafen auf, nur um dort das besorgte Gesicht des Kapitäns zu sehen: „Es klappt nicht, die Wellen da hinten sind zu groß“, sagt er durch das Fernglas blickend. Enttäuscht fahren wir wieder zurück.
Wir wissen, dass andere hier bereits eine Woche auf die Abfahrt der Fähre warten. Dieses Gefühl, von der Natur so abhängig zu sein und wirklich keine anderen Optionen zu haben, als zu warten, ist neu. Aber irgendwie auch entschleunigend und aufregend zugleich.
Am Nachmittag passiert es dann, der Wind beruhigt sich und wir schippern durchs wilde Eiswasser hinüber zum Niemandsland. Ein paar Kilometer fahren, schieben und tragen und mehrere Flussdurchquerungen später erreichen wir endlich die argentinische Grenze. Wir erfahren, dass wir die ersten Menschen sind, die seit Beginn der Corona-Pandemie diese Grenze passieren. Was für ein Glück!
#5 Argentinisches Patagonien – Winde, Andenkondore und Gletscher
Niemand konnte ahnen, wie sehr uns nach der zweiten Überfahrt die Zivilisation erschrecken würde. Zunächst stehen aber 40 Kilometern auf den schlimmsten Straßenverhältnissen für Gravelbikes auf dem Plan – dafür aber mit dem schönsten Ausblick der ganzen Tour auf den großen Fitz Roy.
Der Wind ist in unserem Rücken und bläst uns in den Parque Nacional Los Glaciares und nach El Chalten, die hippe und sehr touristische argentinische Kleinstadt. Hier starten viele schöne Wanderungen, große Klettereien und die meisten Menschen auf einem Haufen, die wir seit Wochen gesehen haben.
Auf Grund des starken Andrangs in der Stadt und der Windgeschwindigkeiten bis 120 km/h halten wir uns hier nicht lange auf und visieren den Perito Moreno Gletscher an. Der Gegenwind ist so stark, dass wir sogar treten müssen, wenn es etwas bergab geht. Trotzdem ist die Fahrt ein reiner Genuss, denn sie ist auf Asphalt!
Die Sonne geht langsam hinter den Bergketten unter und taucht die lange Straße in goldenes Licht. Ein paar Kondore kreisen majestätisch über uns, Hasen queren die Straße und wilde Pferde galoppieren über die ewigen Felder. Im Hintergrund sieht man Eisschollen auf dem See treiben.
Wir schlagen unser Zelt auf und genießen den sternenklaren Himmel. Am nächsten Morgen stehen wir früh auf und schaffen es, zu den Ersten am Gletscher zu gehören. Den atemberaubenden Ausblick auf den Gletscher und die Wucht, mit der immer wieder Eis abbricht, werde ich nie vergessen.
#6 Jede Reise hat ein Ende
Kleiner Funfact zum Schluss
Wie es der Zufall will, lief ich im riesigen Patagonien ausgerechnet Reiner Taglinger über den Weg, den ich nur einen Monat zuvor noch zuhause für Outdooractive interviewt hatte. Er war gerade mit zwei Klienten zum Bergsteigen in Patagonien. Hast du sein spannendes Interview in unserem Outdooractive FACES Newsletter verpasst, lies hier gerne nochmal nach!
Für weitere Touren oder Geschichten schau gerne auf meinem Profil vorbei.
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